TATA Steel Chess - wtf?
Schach ist ein faszinierendes Spiel. Nicht nur für Könner, nein, auch - und vielleicht gerade - für Patzer wie mich. Natürlich weiß ich wie man zieht, und mir ist auch klar, dass man die eigenen Figuren möglichst früh entwickeln und das Zentrum für sich gewinnen sollte. Ich weiß sogar was ein Gambit ist und kenne mehr als eine Eröffnung mit Namen und in groben Zügen. Aber ich bin völlig talentfrei. Nie werde ich auf ein Schachbrett blicken und eine Stellung als Ganzes erfassen, geschweige denn die weitere Entwicklung im Voraus berechnen können. Möglicherweise bin ich gerade deshalb fasziniert von den Großmeistern dieses Spiels, die mit Leichtigkeit 20 oder 30 Züge im voraus kalkulieren und ihre Gegner mit einer geschickten Kombination matt setzen.

Als Kind habe ich gerne "Schach der Großmeister" im WDR gesehen, über zwei Jahrzehnte hinweg 1x jährlich präsentiert von Helmut Pfleger und Vlastimil Hort. Besonders Hort, selbst einmal unter den Top 10 der Welt gewesen, hatte es mir mit seinem freundlichen Wesen und seinem Mutterwitz angetan. Neulich wurde ich durch Zufall auf zwei DVDs aufmerksam, auf denen das Duo die schönsten Partien der Schachgeschichte präsentiert. Eine davon, Aronian vs. Anand, wurde gespielt im niederländischen Wijk aan Zee, wo alljährlich im Januar eines der bedeutendsten Schachturniere der Welt stattfindet. Ein Turnier mit Tradition (erstmals ausgetragen 1938), das seit einigen Jahren vom indischen Stahlkonzern "TATA Steel" gesponsert wird und sich deshalb "TATA Steel Chess" nennt. Neben der versammelten Weltelite kommen dort auch viele Hobbyspieler zusammen, wobei Vlastimil Hort zu berichten wusste, dass auch er - inzwischen über 70 - noch alle paar Jahre zum Kibitzen vor Ort ist, schon wegen der traditionell ausgeschenkten Erbsensuppe, die sich allseits großer Beliebtheit erfreut.

Meine Frau muss gut zugehört haben, als ich ihr mit Begeisterung von besagten DVDs und diesem Turnier erzählte, denn unter dem Weihnachtsbaum lag letztes Jahr ein Gutschein für ein verlängertes Wochenende in Wijk aan Zee, pünktlich zur Schlussrunde der TATA Steel Chess Masters vom 23. bis 25. Januar 2015. Überflüssig zu erwähnen, dass ich diesem Ereignis in den folgenden drei Wochen mit großer Vorfreude entgegensah. Ich konnte es kaum erwarten, in die Welt der Schachgenies einzutauchen (und die erwähnte Erbsensuppe zu probieren). Außerdem liegt Wijk aan Zee an der Nordsee, die auch bei winterlichen Verhältnissen ihren Reiz hat, unseres Erachtens jedenfalls, denn wir mögen die raue See bei Wind und Wetter mindestens ebenso gerne wie zur Badezeit. Also - auf nach Wijk aan Zee.
 
Anreise und erster Eindruck
Die Anfahrt war - von einem Stau kurz hinter Amsterdam abgesehen - kein Problem, in gut zweieinhalb Stunden waren die 250 km von Münster nach Wijk aan Zee zurückgelegt. Auch mit dem Wetter hatten wir unverschämtes Glück. Weder war es an diesem Freitag im Januar glatt, noch regnete es. Unmittelbar vor Wijk aan Zee zeigte sich sogar die Sonne, und sie blieb bis zu unserer Abreise am Sonntag, während zu Hause ein Schneesturm durchzog. Besser hätten wir es gar nicht treffen können.
 

Der erste Eindruck von Wijk aan Zee ist zwiespältig. Der Ort wird völlig dominiert von dem Stahlwerk, das man nicht nur weithin sehen, sondern bei entsprechendem Wind auch riechen kann. So ungefähr muss es in den Fünfzigern im Ruhrpott gewesen sein. Ich musste unentwegt an die Stelle im Roman "The Mysteries of Pittsburgh" denken, wo der Ich-Erzähler das Stahlwerk als "Cloud-Factory" bezeichnet. Tatsächlich schien es so, als seien sämtliche Wolken am Himmel unmittelbar den Schornsteinen von TATA Steel entronnen.
 

Allerdings gibt es eben auch die See. Unser Hotel lag unmittelbar am Wasser, mitten in einer Düne. Von der Terrasse des "Het Hoge Duin" bedarf es nur einer Drehung um 90 Grad, um den Blick von grauen Schornsteinen auf die blaue Nordsee wandern zu lassen. Industrie- und Strandkultur an einem Ort - schon ein gewaltiger Kontrast.
 

Die Spaziergänge durch die Dünen waren bei dem frischen, sonnigen Wetter einfach herrlich. Zum Spielort der TATA Steel Chess Masters, der Mehrzweckhalle "Moriaan", führte uns ein lauschiger kleiner Fußpatt von wenigen hundert Metern, den wir natürlich der Anfahrt mit dem Auto vorzogen. Auch viele Schachspieler wussten die günstige Verbindung zwischen Hotel und Spielort zu schätzen, denn beim Frühstück saßen wir u.a. Ding Liren gegenüber, der das Turnier auf Platz 2 beendete.
 

Unter Schachspielern
Beim Betreten der Halle hätte die Überraschung nicht größer sein können. Ich hatte mir eine elitäre, den Superstars der Szene vorbehaltene Veranstaltung vorgestellt, bei der Zuschauer und Spieler streng voneinander getrennt sein würden, und bei der äußerste Ruhe herrscht. Stattdessen betritt man einen riesigen Saal, in dem an Dutzenden von langen Tischen einige hundert Schach-Amateure sitzen und ihrem Hobby nachgehen.
 

Im Vordergrund des Bildes oben ist übrigens eine Rarität sondergleichen zu sehen - eine Frau (Peggy van Amerongen-Jansen, um genau zu sein). Ich schätze, dass unter den ca. 1.500 Personen in der Halle vielleicht 15 Frauen waren (wobei man bei mancher Erscheinung das Geschlecht nicht sicher bestimmen konnte, aber auch wenn ich diese Personen alle den Frauen zurechne, waren es sicher nicht mehr als 25). Ich kann mich nicht erinnern, jemals in einer Gesellschaft von, sagen wir, mehr als fünfzig Personen gewesen zu sein, bei der die Frauenquote unter 2% lag. Schach ist eindeutig ein Männerspiel (man darf sich streiten warum das so ist, aber es ist so).
 
Die Weltelite
Die Spitzenspieler sitzen zwar nicht neben den Amateuren, sondern auf einer leicht erhöhten Bühne, aber eine räumliche Trennung durch eine Glaswand o.ä. gibt es nicht. Die Zuschauer durften bis unmittelbar an die Bühne herantreten, sodass man den Helden des königlichen Spiels bis auf ein, zwei Meter nahe kommt.
 

Was man auch sieht: die Herren Spieler sitzen keineswegs die ganze Zeit still am Brett. Vielmehr herrscht ein munteres Auf und Ab, von den Partien an den Nachbartischen wird durchaus interessiert Kenntnis genommen. Nur Sprechen ist selbstverständlich verboten. Für mich als Außenseiter war es äußerst spannend, in diese Sozialsphäre einzutauchen und den Code of conduct zu beobachten. Die meiste Aufmerksamkeit zog natürlich der Weltmeister auf sich - Magnus Carlsen aus Norwegen, der stets am Mitteltisch spielte.
 

Im Bild oben spielt Carlsen gegen unseren Hotelmitbewohner Ding Liren, interessiert beobachtet von Vassily Ivanchuk und Baduur Jobava. Weitere Stars der Szene sind die aktuelle Nummer 2 der Welt, der Italiener Fabiano Caruana, Vorjahressieger Levon Aronian aus Armenien oder mein persönlicher Favorit, der Franzose Maxime Vachier-Lagrave, kurz MVL.
 

 

Keinesfalls unerwähnt bleiben darf Frauenweltmeisterin Hou Yifan aus China, die sich - im Gegensatz zu ihrem hier zu sehenden Gegner Baduur Jobava, der abgeschlagen den letzten Platz belegte - durchaus achtbar schlug. Das Turnier gewann übrigens Weltmeister Carlsen, der schwach in das Turnier startete (1 von 3), dann aber eine Siegesserie hinlegte und am Ende mit 9 von 13 möglichen Punkten knapp vor vier Spielern mit je 8,5 Punkten die Nase vorn hatte.
 

Das Schachturnier ist sicherlich das Highlight des Jahres in Wijk aan Zee, das ansonsten ein relativ kleiner Ort und sicherlich nicht der Touristenmagnet schlechthin ist (erwähnte ich schon das Stahlwerk?). Aber es fehlt dem Besucher an nichts. Wir haben jedenfalls ein nettes Cafe aufgetan, und am Abend haben wir bei Pianomusik sehr lecker gegessen. Amsterdam, Haarlem und Alkmaar sind nur einen Steinwurf entfernt und allesamt einen Ausflug wert, wenn man mehr Zeit als nur ein Wochenende mitbringt.

Fazit
Uns hat es super gefallen. Und eines kann ich auch bestätigen: die Erbsensuppe schmeckt wirklich super! Vielen Dank für den Tipp, Vlastimil.
 


 

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