Fahrt nach Gill's Bay

Von Inverness bis zum Fährhafen Gill's Bay benötigt man mit dem Pkw bei freier Strecke ca. zweieinhalb Stunden, wenn man sich an das Tempolimit von 70 mph (= 120 km/h) außerorts hält. Trotzdem sollte man etwas mehr Zeit einplanen, denn erstens will man eine Fähre nicht knapp verpassen (schon gar keine, die nur alle sechs Stunden verkehrt), und zweitens ist die Strecke die A9 hinauf dermaßen schön, dass man die Fahrt genießen sollte, anstatt nur Strecke abzureißen. Ich darf in aller Bescheidenheit behaupten, schon einige vielgerühmte Panoramastrecken befahren zu haben, von denen manche mehr, manche weniger und manche genau das gehalten haben, was sie versprachen. Aber die A9 in Schottlands Norden muss sich hinter keiner Strecke verstecken. Man fährt kilometerweit an der Steilküste entlang, mit freiem Blick auf das Meer, durch eine grüne, nur von kleinen Örtchen unterbrochene Landschaft, und immer wieder überraschen alte Kirchen oder Burgen das Auge. Und der Verkehr hält sich in Grenzen, Baustellen gibt es kaum. Das eigentliche Kunststück besteht darin, gutes Wetter zu erwischen. In diesem Punkt hatte ich - wie die ganze Reise über - unverschämtes Glück.

Fährtransfer
Die Nummer 1 unter den Orkney-Fähren ist eindeutig Northlink, die zwischen Scrabster und Stromness verkehrt. Die Überfahrt dauert 90 Minuten und kostet für eine Person mit Pkw hin und zurück stolze 120 Pfund (= 150 Euro). Demgegenüber benötigt die Alternative, Pentlandferries, für ihre Strecke von Gill's Bay nach St. Margaret's Hope nur gut 60 Minuten und verlangt dafür nur 80 Pfund (= 100 Euro). Warum sich angesichts dieses Vergleichs überhaupt jemand für Northlink entscheidet, geschweige denn die große Mehrheit, ist mir ein Rätsel. Ich bin jedenfalls mit Pentlandferries gefahren und war vollauf zufrieden.

Erste Orientierung
Die Orkney Islands bestehen aus ca. 60 Inseln, von denen 20 bewohnt sind. Die Hauptinsel heißt trefflich "Mainland". Dort, genauer gesagt in den Städten Kirkwall und Stromness, lebt auch die Mehrzahl der ca. 20.000 Einwohner. Zusammen mit den Inseln Hoy, Flotta, South Ronaldsay und Burray umschließt Mainland die "Scapa Flow" genannte Bucht, die Freunden der deutschen Kriegsmarine aus zwei Gründen bestens bekannt ist:

Zum einen befahl Admiral Ludwig von Reuter am 19. Juni 1919 die Selbstversenkung der hier internierten kaiserlichen Kriegsflotte, woraufhin binnen weniger Stunden über 50 Kampfschiffe absoffen - sehr zur Verwunderung ihrer englischen Bewacher übrigens, die schon mit fetter Kriegsbeute gerechnet hatten.

Nicht weniger gewundert haben sich die Engländer über das zweite Vorkommnis, denn als im 2. Weltkrieg das deutsche U-Boot "U 47" unter seinem Kommandanten Günther Prien in die Bucht von Scapa Flow eindrang und dort das Schlachtschiff "HMS Royal Oak" torpedierte, glaubte dessen Kommandant zunächst an eine interne Ursache für die Explosion, so unvorstellbar schien es ihm, dass ein feindliches U-Boot in den als uneinnehmbar geltenden Hafen der englischen Homefleet eindringen konnte. Beide Geschichten sind jedem Orcadian bekannt und werden auch in jedem Reiseführer geschildert. Bis heute sichtbare Folge des zweiten Vorkommnisses sind die sog. "Churchill Barriers", wie die aus ca. 60.000 Steinquadern aufgeschichteten künstlichen Dämme genannt werden, die das Eindringen weiterer U-Boote unmöglich machten. Heute dienen sie als Verbindungswege zwischen den Inseln. Vereinzelt sieht man auch noch Teile von Schiffswracks in Scapa Flow, weshalb die Bucht heute ein Eldorado für Taucher ist. Allerdings wurde der ganz überwiegende Teil der kaiserlichen Flotte des hohen Schrottwerts wegen schon vor langer Zeit gehoben; nur noch einige kleinere Schiffe liegen in Scapa Flow, zu denen sich ein paar für die Taucher absichtlich dort versenkte Wracks gesellen.

Kirkwall
Mein erster Weg führte nach Kirkwall, der Hauptstadt der Orkney Islands, die malerisch in die Landschaft eingebettet ist:

Eindeutiges Highlight Kirkwalls ist die in der Stadtmitte gelegene St. Magnus Kathedrale. Der Legende nach herrschte St. Magnus zusammen mit seinem Cousin Håkon von 1105-1114 über die Orkneys. Man geriet schließlich in Streit, weil Håkon nicht so friedliebend war wie St. Magnus, traf sich zu einem Schlichtungsgespräch, doch Håkon plante einen Hinterhalt und ließ St. Magnus bei dieser Gelegenheit durch einen Handlanger erschlagen. Viel genutzt hat es ihm nicht, denn Håkon verstarb wenig später, und sein Nachfolger Paul wurde von Earl Rögnvald vertrieben, der ab 1137 besagte Kathedrale zu Ehren von St. Magnus bauen ließ.

Eines sollte man in Kirkwall übrigens nicht suchen: Einen Internetanschluss. Ein Internetcafe gibt es nicht, Computerterminals in den wenigen Hotels auch nicht, und selbst das ortsansässige Orkney Wireless Museum hat nicht nur keine wireless-, sondern überhaupt keine Internetverbindung. Wer sich also über das aktuelle Wetter informieren will, muss sich mit einem Blick nach oben begnügen.

Ring of Brodgar & Standing Stones of Stenness
Highlight meines Aufenthalts auf den Orkneys war ein Besuch des Ring of Brodgar. Vor 4.000-4.500 Jahren haben die Orcadians 60 Megalithen in einem perfekten Kreis von 104m Durchmesser aufgestellt. Ähnlich wie bei der in etwa gleichaltrigen Anlage Stonehenge weiß man bis heute nicht genau warum. Ein kultisch-ritueller Hintergrund gilt als sicher, vielleicht diente der Kreis aber auch sozialen Zwecken oder als Grabstätte. 36 Steine existieren bis heute, wenngleich z.T. nur noch als Fragmente. Immerhin 21 stehen noch, genug, um die ursprünglichen Ausmaße der Anlage nachvollziehen zu können. Nach wie vor ist die mystische Atmosphäre des Ortes mit Händen zu greifen, zumal die Einsamkeit nicht durch andere Touristen gestört wird (bei meinen Besuchen jedenfalls nicht; ich war insgesamt 3x dort, davon 2x völlig allein und einmal zusammen mit einer Reisegruppe von vielleicht einem Dutzend Personen).

In unmittelbarer Nachbarschaft des Rings of Brodgar, bei dem Örtchen Stenness, stehen fünf weitere, noch größere Megalithen. Vier davon deuten ebenfalls eine Kreisstruktur an, ein vierter steht etwas abseits. Dieses "Watch Stone" genannte Exemplar (unten rechts in der Abenddämmerung) ist mit 5,6m das höchste von allen.

Skara Brae & Maes Howe
Im Winter 1850 trug ein schwerer Sturm in der Bay of Skaill eine Düne ab und legte die Ruinen einer vorgeschichtlichen Siedlung frei: Skara Brae auf Mainland Orkney. Nach groben Vorarbeiten wurde sie ab 1927 mit archäologisch-wissenschaftlicher Akribie freigelegt und konserviert. Man schätzt, dass die in das Erdreich integrierten steinernen Behausungen über 5.000 Jahre alt sind. Im Sand bestens konserviert, erlauben sie noch heute einen Einblick in das damalige Leben. Man erkennt primitive Betten, Kleiderschränke (wie auf dem kleinen Bild links), Feuerstellen und vieles mehr. Genau wie der Ring of Brodgar, die Standing Stones of Stenness und Maes Howe (dazu sogleich) gehört Skara Brae zum Welterbe der UNESCO. Schon der Weg dorthin ist übrigens nicht uninteressant, denn man hat ihn als Zeitreise ausgestaltet: Von heute geht es über die Mondlandung, die Römer, die chinesische Mauer, Stonehenge und viele andere zeitgeschichtliche Ereignisse zurück bis Skara Brae. Dadurch gewinnt man ein Gefühl dafür, wie alt die Siedlung wirklich ist.

Unmittelbar hinter Skara Brae liegt übrigens Skaill House (Bild rechts), eine ehemalige Bischofsresidenz aus dem 17. Jahrhundert, die besichtigt werden kann. Weil es im Eintrittsgeld für Skara Brae enthalten war, habe ich einen Blick riskiert, aber nichts weltbewegendes entdeckt.

Maes Howe ist eine neolithische Grabkammer, die ebenfalls vor über 5.000 Jahren angelegt wurde. Von außen ein unscheinbarer Grashügel (siehe Panoramabild unten), offenbart sie bei genauerer Betrachtung doch erstaunliches Wissen und hohe Kunstfertigkeit. Denn genau zur Wintersonnenwende fallen die letzten Strahlen vor Sonnenuntergang in den engen Eingangstunnel und beleuchten die rückwärtige Wand der Grabkammer. Wohl kaum ein Zufall. An den Wänden erkennt man Runen, die nicht von den Erbauern stammen, sondern von Wikingern, die hier viele Jahrhunderte später ihr Unwesen trieben. Die Inschriften enthalten so aussagekräftige Texte wie "Indigrid ist die Schönste" oder "Ich bin der beste Runenschnitzer aller Zeiten". Barbaren eben.

Ferner liefen
Neben diesen einmaligen Attraktionen haben die Orkney Islands noch eine Menge anderer Sehenswürdigkeiten zu bieten. Manche davon sind ganz unscheinbar und in Reiseführern gar nicht erwähnt. Für mich persönlich stellt z.B. die St. Peter's Kirk bei Birsay eine solche dar. Mitten im Nirgendwo steht plötzlich eine kleine Kirche mit einem Friedhof 'drumherum, der vor der Kulisse aus Landschaft und Meer schön und unheimlich zugleich wirkt:

Dergleichen gibt es auf Mainland zu Hauf. Als letztes Beispiel möchte ich die Italian Chapel anführen, die ich auf der Rückfahrt zur Fähre in St. Margaret's Hope noch besichtigte. Italienische Kriegsgefangene, die zur Errichtung der Churchill Barriers zwangsverpflichtet wurden, vertrieben sich die Eintönigkeit ihres Daseins mit der Errichtung dieser Kapelle.

Epilog
Mit Sicherheit hätte man auf den Orkney Islands noch eine Menge mehr sehen und tun können. Eine Überfahrt auf die Insel Hoy wird vielfach empfohlen, und hätte ich nicht schon zuvor eine Whiskybrennerei besichtigt, hätte sich die Highland Park Distillery in Kirkwall angeboten. Eigentlich Pflicht wäre auch ein Abstecher zur Tomb of the Eagles am Südzipfel von South Ronaldsay gewesen, aber das lag so gar nicht auf meiner Route, und außerdem machte mir die schon erwähnte Erkältung doch merklich zu schaffen. Deshalb kürzte ich meinen Urlaub schließlich um zwei Tage, fuhr an nur einem Tag von Stromness auf Mainland Orkney nach Edinburgh zurück, übernachtete dort noch einmal und flog am Morgen des nächsten Tages nach Hause. Eine Woche mit unvergesslichen Eindrücken (und für schottische Verhältnisse unverschämt gutem Wetter) ging so zu Ende.